Best-Practice Beispiel: Ingo Pletschen und Martin Bürkle

  10.10.2024    BLV Top-News BLV BW-Leichtathletik
„Ich würde mich freuen, wenn wir durch dieses Interview noch vielen anderen Leuten helfen würden.“ Beim LBV Achern ist seit über 40 Jahren die Arbeit mit Menschen mit Behinderung Normalität. Wie wichtig gerade der ständige Kontakt mit den Fachleuten ist, erläutern Ingo Pletschen und Martin Bürkle im Interview.

Ingo Pletschen ist Trainer beim LBV Achern und trainiert die Laufdisziplinen ab 800 Meter ab der U18.  Manchmal sind auch die Mehrkämpfer dabei, wenn sie Ausdauer trainieren müssen. In seiner Trainingsgruppe trainiert auch ein Special Olympics Athlet mit, der eine geistige Behinderung hat. Er ist Autist. Die Disziplinen des Athleten sind die 1500 Meter, 5 Kilometer und 10 Kilometer. Er hat schon an verschiedenen Special Olympics Wettkämpfen teilgenommen, unter anderem bei deutschen Meisterschaften, bei der er erfolgreich Medaillen gewonnen hat. Aber auch an Volksläufen und Bahnwettkämpfen nimmt er inklusiv teil.

Martin Bürkle ist erster Vorstand des Vereins, ehemaliger Trainer und mittlerweile Ersatztrainer. Der LBV Achern hat eine eigene Abteilung für den Behindertensport. Die Abteilung hat eine Behindertensportgruppe mit dem Namen: „Behinderten- und Nichtbehindertensportgruppe“. Diese gibt es seit über 40 Jahren und wird heute von drei lizenzierten Behindertensport Trainerinnen geleitet. In dieser Gruppe trainieren einmal in der Woche seelisch und psychisch behinderte Menschen, teilweise mit Schwerstbehinderungen. Für diese Sportgruppe werden auch inklusive Meisterschaften organisiert und durchgeführt. Auch der Special Olympics Athlet trainiert einmal wöchentlich in der Behindertensportgruppe und zusätzlich bei Ingo Pletschen inklusiv in der Läufergruppe.

Für die Athlet:innen ist das Training „ein Fix-Termin.“ Wenn sie da nicht hingehen können, haben sie ein richtiges Problem – sie wollen da hin. Von daher ist das eine ganz wichtige Angelegenheit und Routine.“

Was bedeutet für euch Inklusion?

Ingo: „Dass die Special Athleten ganz normal bei uns mittrainieren. Manchmal mit ein bisschen mehr Betreuungsaufwand, aber dafür können sie mit den anderen Sportlern mitmachen. Das heißt man passt das Training so an, dass es niemanden überfordert und jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten mitmacht.“

Martin: „Teilhabe. Dass die Sportler, egal wer es ist und wie alt sie sind, die Möglichkeit haben an unserem Sport teilzunehmen. Teilhabe und Gleichberechtigung, ohne den Aufwand an die große Glocke zu hängen, sondern als Selbstverständlichkeit anzusehen.“

Wie sieht das inklusive Training aus?                                                                                    

Ingo: „Der Special Athlet läuft auch schon mal weniger im inklusiven Training als die anderen Athleten. Auch bei koordinativen Übungen tut er sich schwer, aber es ist trotzdem wichtig, dass er mitmacht und die Haltung trainiert. Es macht jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten mit - das ist für mich Inklusion. Der Special Athlet braucht bei allen Themen eine intensivere Betreuung, das ist vergleichbar mit einem Kind. Ich kann jetzt nicht sagen ‚wir laufen 800 Meter‘, sondern ‚wir laufen zwei Runden‘. Ich würde ihn auch nicht draußen allein laufen lassen, da muss schon immer jemand dabei sein.“

Martin: „mit dem Begriff schneller zu laufen kann der Special Athlet nicht viel anfangen, wenn man ihm aber zuruft er soll die Person vor ihm mit einem roten Trikot überholen, dann macht er das ohne größere Anstrengung. Wenn er bei einem Volkslauf jemanden trifft, dann unterhält er sich auch mal über die gesamten 10 Kilometer. Wenn mal zehn Läufer schneller oder langsamer laufen als er, dann passt er sein Tempo auf die anderen Läufer an.“

Was ist die größte Herausforderung im inklusiven Training?

Ingo: „Bei koordinativen Übungen, wobei man Konzentration braucht, tut sich der Special Athlet sehr schwer. Die Aufgabestellung muss ich häufiger wiederholen, da brauche ich Geduld. Dafür kann er sich andere Sachen super merken. Zum Beispiel wer was am Vorabend gegessen hat. Außerdem hat der Special Athlet eine sehr nahe körperliche Distanzzone - das muss man im Vorhinein ansprechen, gerade wenn Frauen in der Trainingsgruppe sind, da es sonst zu komischen Situationen kommen kann.“

Martin: „Wenn Ingo zum Beispiel einen Dauerlauf mit ihm ins Gelände macht und es eine Straße zu überqueren gibt, dann kann es passieren, dass er einfach in Gedanken drauflosläuft und nicht merkt, dass da eine Straße ist. Da muss Ingo als Trainer auf den Athleten gut aufpassen. Zusätzlich sollte man nicht nur dem autistischen Sportler Aufmerksamkeit schenken, sondern ein Mittelmaß finden, dass die anderen Sportler auch genügend Aufmerksamkeit bekommen. Der Special Athlet weiß sich da ein und unterzuordnen, sodass er ein gleichberechtigtes Mitglied der Trainingsgruppe ist. Wenn er jedoch zu intensiv wird und zu viele Fragen stellt, dann kann man zu ihm sagen, dass er ein bisschen ruhig sein soll und später nochmal kommen soll. Ansonsten würde die Trainingsgruppe darunter leiden und er würde nicht so sehr akzeptiert werden, wie er es jetzt wird. Da benötigt man Fingerspitzengefühl. Es ist immer wichtig, keinen Athleten hervorzuheben, damit es nicht zu Eifersucht und Neid kommt.“

Wie haben die anderen Athlet: innen auf den Special Olympics Athleten reagiert?

Ingo: „Da muss man einfach sagen, dass er ein ganz normaler Athlet in der Trainingsgruppe ist. Unter Teenagern ist es manchmal ein bisschen überraschend oder herausfordernder, weil es ungewohnter ist, aber bei den Älteren ist das gar kein Thema. Für die Jüngeren ist es eigentlich eine super Lernerfahrung. Es ist eben nichts, was nicht normal ist, auch wenn man dann näher darauf eingehen muss.“

Martin: „Sehe ich genauso.“

In wie fern seht ihr einen positiven Effekt auf die Persönlichkeitsentwicklung von den anderen Athlet:innen?

Martin: „Einfach zu sehen, dass es nicht nur Leute gibt, die gut und gerne im Sport sind und alles Mögliche machen können, sondern dass es auch Menschen gibt, die in der Bewegung und auch im Denken eine gewisse Einschränkung haben und das man lernt mit ihnen umzugehen.

Wenn man sieht, wie die jungen mit ihm umgehen, das ist sehr behutsam. Viele passen auch auf was er macht. Das habe ich schon beobachtet - ein sehr gutes Miteinander. Ich habe noch nie, also wirklich noch nie, irgendeine böse Szene gesehen, wo wir Trainer hätten eingreifen müssen und irgendetwas korrigieren. Zum Beispiel, dass sie einen Spaß machen würden der nicht gut ist. Sie gehen behutsam mit ihm um und passen auf. Er gehört einfach mit dazu. Wenn er nicht da wäre, würde er fehlen.“

Ingo: „Ja auf jeden Fall. Also Martin genau wie du sagst, sie gehören zu unserem Leben dazu. Es ist halt eben nicht so, dass jeder mit allen Eigenschaften gleich geboren wird. Sie sind so geboren und ich will sie ins normale Leben integrieren.  Das lernen auch die anderen Athleten, wenn sie zuvor keinen Kontakt zu behinderten Menschen hatten. Auch für mich war das neu, als ich vor knapp 10 Jahren zum LBV Achern gekommen bin.

Auch Zufriedenheit kann man von ihm sehr, sehr gut lernen, er ist eigentlich immer zufrieden.“

An wen habt ihr euch gewendet, wenn ihr Fragen oder Unterstützung bezüglich des Special Olympics Athleten benötigt habt?

Ingo: „Ich wende mich an den Martin.“

Martin: „Eltern und Lebenshilfe. Meistens an die Eltern, dann erfährt man solche Dinge wie die Umstellung von Tabletten. Das wissen die Athleten manchmal nicht selbst, das erfährt man dann oft über die Betreuer. Bei einer eins zu eins Betreuung kommen dann die Betreuer von der Lebenshilfe oder sonstigen Organisationen mit und da kriegen wir dann schon die Tipps. Es ist eine völlig andere Herangehensweise wie bei Para Sportlern, weil diese eine körperliche Beeinträchtigung haben und es genauso vom Kopf steuern können wie wir auch. Bei dem Special Olympics Athlet ist es eben anders. Es sind viele Leute, die das Fachwissen haben und uns unterstützen können.“

Gibt es etwas, bei dem ihr euch mehr Unterstützung gewünscht hättet?

Martin: „Wir haben von außen keine Unterstützung gebraucht, weil wir die Fachleute dagehabt haben, die mit Herzblut dabei sind. Seit 40 Jahren gibt es diese Gruppe. Der Kontakt zur Lebenshilfe ist da, da sind einfach so viele Leute im Hintergrund, die das Fachwissen haben und uns unterstützen könnten.“

Ingo: „Damit sowas funktioniert in einem Verein braucht man das. Es muss dieser Kontakt Lebenshilfe und Verein etabliert werden. Es verlangt Betreuungsaufwand, es verlangt Trainer und in der heutigen Zeit, in der jetzt auch nicht die Trainer vom Himmel fallen, muss das natürlich auch gestemmt werden können. Das sind die Herausforderungen.“

Martin: „Es ist ein Geben und Nehmen zwischen Organisationen.“

Konntet ihr als Trainer etwas von dem Special Olympics Athleten lernen?

Martin: „Ich persönlich habe von ihm gelernt: sein extremes Gedächtnis. Wenn eine Person einmal ins Training kommt, er nach dem Namen fragt und diese Person erst nach fünf Jahren wieder kommt, dann guckt er ein Weilchen, überlegt und spricht die Person an mit zum Beispiel ‚Gell, du warst schon mal bei uns. Du hast heute eine andere Brille auf, damals war sie rosa und jetzt ist sie schwarz.‘  Er kann sich Dinge merken, das ist unwahrscheinlich. Wir amüsieren uns immer wieder drüber. Was er zum Beispiel nicht leiden kann ist Knoblauchgeruch. Wenn jemand ins Training kommt und davor Knoblauch gegessen hat und danach duftet, dann sagt er es ganz deutlich: ‚du riechst heute aber nicht gut, du hast heute Knoblauch gegessen.‘ Diese Offenheit hat mich bereichert“.

Ingo: „Das er Eis essen kann, vorm Laufen. Das könnte ich nicht ohne mich zu übergeben.“

Gibt es etwas, das ihr anderen Trainer: innen empfehlen würdet, die eine Anfrage von Athlet: innen mit Behinderung bekommen?

Martin: „Keine Angst vor der Berührung und vor dem Kontakt haben. Sie sind genauso Menschen wie alle anderen auch. Egal mit welcher Behinderung oder mit welchen Fähigkeiten, wenn die Chemie stimmt, dann stimmt sie. Einfach austesten und gucken, ob ich mit der Person klarkomme und ohne Scheu und Vorbehalt auf die Person zu gehen.“

Ingo: „Genau wie Martin sagt, keine Berührungsängste haben, sowie Geduld und Verständnis mitbringen. Hilfreich sind die Kontakte zwischen Verein und Lebenshilfe.“

Martin: „Man darf auch keine Berührungsängste gegenüber Flüchtlingskindern in den Vereinen haben, oder Menschen mit einer anderen Hautfarbe oder anderen Sprache. Einfach darauf freuen, dass es die Möglichkeit gibt, solche Kontakte überhaupt wahrzunehmen zu können, das ist nicht überall auf der Welt so. Wir haben die Möglichkeit multinational und multikulturell Kontakte zu knüpfen.“

Gibt es noch etwas, dass ihr den Leser:innen mitgeben wollt?

Martin: „Ich würde mich freuen, wenn wir durch dieses Interview noch vielen anderen Leuten helfen würden. Dass die Zukunft gesichert ist. Die Frage ist ja, was kommt nach uns? Da würde ich mich freuen, dass die Leute die heute jung sind und im Beruf stehen einfach bereit sind ein paar Minuten in der Woche beizusteuern in irgendeiner Form.  Und dann auch verlässlich, nicht nur an einem Projektabend, sondern mal für ein Jahr oder zwei was machen. Dann bleiben sie nämlich hängen, weil es ihnen so viel Spaß macht.“

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