Best-Practice Beispiel: Jürgen Adolf
U18 Athletin Charnica Jäger ist Teil von Jürgen Adolfs Trainingsgruppe und macht am liebsten Sprint, Weitsprung und Staffel. Im Training wird jedoch alles trainiert, da es gerade im Breitensport wichtig ist vielseitig aufgestellt zu sein, um so z.B. auch in der Schule überall gut mitmachen zu können. Seit der Kinderleichtathletik macht sie bei allen Wettkämpfen mit. Einen Unterschied zu ihren Teamkameraden gibt es allerdings, sie ist gehörlos.
Wie sieht das inklusive Training aus?
„Früher, als sie noch jünger war, war es so, dass ich öfter etwas vorgemacht habe. Aber sie ist ja jetzt schon lange dabei. Beispielsweise im Weitsprung: Wenn die Athleten springen, kommen sie danach bei mir vorbei und ich sag ihnen dann, was sie verbessern können. Bei Charnica zeige ich es dann. Wenn es etwas Komplizierteres ist kommt Lin dazu. Dann sag ich es ihr und sie sagt es Charnica in Gebärdensprache.“
Seit letztem Jahr ist Charnicas Freundin Lin, mit der sie in eine Klasse geht, auch zur Leichtathletik gekommen. Diese kann Gebärdensprache, was nicht nur eine Unterstützung für Charnica und ihren Trainer bedeutet, auch alle anderen profitieren davon.
Was war für Sie die größte Herausforderung im Training und wie sind Sie damit umgegangen?
„Die größte Herausforderung ist, wenn man etwas Kompliziertes erklären möchte. Das ist, wie wenn man in einer anderen Sprache nicht die Worte dazu hat. Ich habe die Gebärdensprache nicht gelernt, das würde es natürlich erleichtern. Da bin ich jetzt eigentlich ganz froh, dass seit letztem Jahr ihre Freundin dabei ist, die auch die Gebärdensprache kann. Die Jahre davor ging das aber trotzdem ganz gut, sie hat sich einfach immer bei den anderen orientiert und das nachgemacht.“
Wie haben die anderen Athlet:innen auf die gehörlose Athletin reagiert?
„Das war eigentlich nie ein Thema. Im Gegenteil, es ist eher so, dass die sehr hilfsbereit sind und auf Charnica Rücksicht nehmen. Auf einem Wettkampf zum Beispiel, wenn was durchgesagt wird, teilen sie ihr mit was durchgesagt wurde. Und weil in der Gruppe viele auch schon lange (seit der Grundschule) dabei sind, verstehen sie sich gut.“
Nimmt die gehörlose Athletin an Wettkämpfen teil? Wenn ja, gab es Probleme bei der Organisation?
„Sie macht ganz normal die Wettkämpfe, wie alle anderen auch, über den BLV oder DLV, da gibt’s keine Klassifizierung. Es gibt dann natürlich auch die deutschen Meisterschaften der Gehörlosen. Da gibt es einen extra Verband, da ist unser Verein aber kein Mitglied. Das war aber auch nicht nötig, das haben dann die Eltern gemacht. Sie haben sie über einen Verein in Karlsruhe (Mitglied im Gehörlosenverband) dort angemeldet und sind mit ihr dann zu den Gehörlosen Meisterschaften gegangen. Im Großen und Ganzen ist Charnica die Saison über mit allen anderen bei den normalen Wettkämpfen dabei und macht ganz normal mit. Nur einmal in der Halle und einmal draußen ist sie quasi extra bei den Gehörlosen Meisterschaft dabei.“
„Ich find das auch so besser. Sie schlägt sich super im normalen Umfeld. Insofern ist es eh besser, wenn sie bei den normalen Wettkämpfen mitmacht. Sonst werden die Athleten auch ein bisschen ausgegrenzt, wenn man einen eigenen Wettkampfrahmen hat. Dann ist man ja nicht da dabei, wo die anderen sind. Dafür ist der Sport auch da, dass sie das gemeinsam erleben und nicht allein.“
Wie funktioniert zum Beispiel ein Sprintstart?
„Sie schaut auf die Starter neben sich und wenn die sich bewegen, bewegt sie sich auch. Aber man sieht auch, dass da dann eine Verzögerung ist.“
„Deswegen habe ich mich letztes Jahr fürs Training für einen Zuschuss [Badischen Sportbund Nord] beworben und diesen auch bekommen. Davon habe ich eine Zeitmessanlage mit Lichtschranken und einem Display bestellt. Dadurch, wenn wir 30 oder 50 Meter Sprints machen, sehen sie die Zeit und ich muss nichts mehr zurufen. Außerdem motiviert die Lichtschranke mit der sichtbaren Zeit sehr stark, mehr als die Stoppuhr.“
Was können Sie und die anderen Athlet:innen von Charnica lernen?
„Sie ist ganz normal wie jedes andere Mädchen, hat die gleichen Probleme und geht durch dieselben Phasen wie alle anderen auch.“
„Die Athleten lernen Gebärdensprache und haben auch Spaß daran. Das kann man sich auch so vorstellen: Wenn sie z.B. beim Weitsprung am Anlauf stehen und warten bis sie dran sind und währenddessen ‚Was heißt Blume?‘, ‚Was heißt Sonne?‘, oder was ihnen gerade so einfällt fragen. Dann fragen sie Charnica ‚Wie ist das Symbol dafür?‘ und sie zeigt es ihnen dann. Irgendwie verständigen sie sich immer.“
Gibt es etwas das Sie anderen Trainer:innen ans Herz legen würden?
„Bei uns im Breitensport würde ich immer jeden einfach mitmachen lassen und dann die Übungen entsprechend anpassen, dass sie bewältigt werden können. Auch andere Athleten sind nicht gleich gut. Es gibt Athleten, die koordinativ nicht so bevorzugt sind wie andere. Wenn ich dann z.B. Abläufe mache mit kleinen Hürden, dann mach ich eben eine Zweite Bahn mit kürzeren Abständen. Man muss auf die Möglichkeiten, die die Athleten haben Rücksicht nehmen. Das ist aber auch unabhängig davon, ob jemand eine Behinderung hat. Ich finde das ist eh fließend. Ab wann ist jemand behindert? Jeder hat andere Möglichkeiten oder einen Möglichkeitsraum, in dem man sich bewegt.“
„Ich versuche den Athleten immer beizubringen: Es geht nicht darum, wer der oder die Beste ist. Mir geht es eigentlich immer darum, dass jeder sich selbst verbessert in dem, was er kann. Zumindest ist das meine Philosophie.“
Was bedeutet Inklusion für Sie?
„Inklusion ist die Teilhabe aller an gemeinschaftlichen Tätigkeiten der Gesellschaft. Das finde ich die Normalität, oder sollte die Normalität sein. Ich finde in unserer Gesellschaft sollten eigentlich alle an allen Aktivitäten, ob Schule, Sportverein, Musikverein oder egal was teilnehmen können.“
„Der Begriff ‚behindert‘ ist ein bisschen problematisch finde ich. Die Frage ist: Wer definiert was das ist, wann ist jemand als behindert zu bezeichnen und wann nicht? Alle Menschen sind unterschiedlich und manche haben in manchen Bereichen Vorteile. Sei es durch Genetik, sei es durch Erziehung, weil sie eine angenehmere Kindheit hatten oder was auch immer. Und andere haben halt weniger Vorteile. Und wenn man dann eine Linie zieht und sagt ‚die sind jetzt „normal“ und die anderen nicht‘ dann finde ich das eher problematisch.“
„Es gibt ein schönes Lied von den Fantastischen Vier, in dem es heißt: ‚Ist es normal nur weil alle es tun?‘ Da stellt sich die Frage: Was ist normal?“